Warum Dickungsmittel sehr wohl von der Krankenkasse bezahlt werden sollten • Alexander Fillbrandt, Logopäde & Nerd (2024)

Ich führe in meiner täglichen Arbeit viele Schluckuntersuchungen durch. Manchmal erheben ich dabei nur einen klinischen Befund, meistens aber kommt eine fiberendoskopische Schluckuntersuchung zum Einsatz. Meine Patienten gehören dabei zu einem großen Teil zur Gruppe der neurogenen Dysphagie-Patienten: Sie leiden an Morbus Parkinson, MS, ALS, hatten einen Hirnstamminfarkt oder ein SHT.

Vor einem Jahr habe ich eine fiberendoskopische Schluckuntersuchung FEES® bei einer Patientin mit einem atypischen Parkinson durchgeführt und konnte dabei feststellen, dass sie hom*ogene Kost ausreichend sicher, Flüssigkeiten aber auf Grund von Leaking und Penetration nicht sicher verarbeiten konnte. Meine Empfehlung lässt sich kurz zusammenfassen: Getränke bitte andicken.

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Angedickte Getränke

Aus meiner beruflichen Erfahrung weiß ich, dass dies keine ungewöhnliche Empfehlung ist. Viele Pflegeeinrichtungen, Kliniken, Reha-Zentren und Patienten zu Hause nutzen Dickungsmittel um eine orale Flüssigkeitsaufnahme zu ermöglichen.

Zwei bekannte Hersteller teilen sich den Markt. Nutilis Powder und Thickenup Clear heißen die beiden bekanntesten Produkte und jedes hat einen individuellen Vorteil.

Nutilis Powder ist amylaseresistent, es wird durch längeren Kontakt mit Speichel also nicht verflüssigt und eignet sich daher besonders für den Einsatz bei Patienten mit einer deutlich prolongierten oralen Phase.

Thickenup Clear auf der anderen Seite ist so zusammengesetzt, dass es zu keiner Trübung der Flüssigkeit kommt. Damit eignet es sich besonders bei Patienten, die eine eher ablehnende Haltung haben, die ein optisch verändertes Getränk erst recht verweigern würden.

Erprobtes Hilfsmittel

Alternativen zu angedickten Getränken stehen in einer Klinik im Akutbereich sicherlich zur Verfügung. Eine enterale Ernährung mittels Sonde oder die parenterale Versorgung mit Flüssigkeiten. In der häuslichen Pflege ist eine parenterale Ernährung oft problematischer und eine PEG ausschließlich zur Flüssigkeitsgabe ist kein adäquates Mittel. Bei der Entscheidung welche Hilfe für einen Patienten die richtige ist, müssen aber viele weitere Parameter herangezogen werden. Es ist immer eine Einzelfallentscheidung.

Um so verwunderter war ich, als mich der Ehemann meiner Patientin mit dem atypischen Parkinson ansprach. Die Krankenkasse hatte die Kostenübernahme für das Dickungsmittel abgelehnt. Wortreich erklärte man sich mit allgemeinen Formulierungen, dass Dickungsmittel kein Hilfsmittel im Sinne des Sozialgesetzbuches (SGB) sind, dass ähnliche Produkte (Dickungsmittel auf Maisstärkebasis) auch im Lebensmittelhandel verfügbar seien, dass Dickungsmittel ein diätetisches Produkt – damit Lebensmittel – seien und darum eine Kostenübernahme unmöglich.

Meine erste Argumentation im Kontakt mit der Krankenkasse beruhte auf dem Umstand, dass die Behandlung von Aspirationspneumonien sicher teurer würden, als die Übernahme der Kosten für das Dickungsmittel. Zugegeben, keine besonders starke Argumentation. Und so scheiterte dieser Hinweis auch sehr früh. Das sei kein ausreichendes Argument im Sinne des SGB, konterte die Krankenkasse.

Einzelfallentscheidung

Bis dahin argumentierte die Krankenkasse immer mit sehr allgemeinen Aussagen. Keine dieser Aussagen war wirklich falsch, aber auffällig war, dass sie jeweils wenig fallbezogen waren. Urteile des Bundessozialgerichts wurden zitiert, die Vorteile von Dickungsmitteln aus der Apotheke wurden wegphilosophiert und Besonderheiten im Fall meiner Patientin schlicht ignoriert.

Damit änderte ich meine Strategie. Ich ging fortan von einem Systemfehler aus. Über den weiteren Verlauf muss nun ein Gericht entscheiden, ein Weg den der Ehemann meiner Patientin bereit ist zu gehen. Hier meine Stellungnahme:

Frau Mustermann wurde mir 2011 zu einer fiberendoskopischen Schluckuntersuchung vorgestellt. Im Rahmen dieser Untersuchung habe ich festgestellt, dass auf Grund ausgeprägten Leakings (Abgleiten von Teilen des Speisebolus vor Auslösen des Schluckreflexes in den Pharynx) für Flüssigkeiten und der eingeschränkten Kooperationsfähigkeit der Patientin ein erhebliches Aspirationsrisiko bei der Aufnahme flüssiger Nahrung besteht.

Therapeutische Interventionen in einem solchen Fall beinhalten die Optimierung der Lagerung und Körperhaltung während der Nahrungsaufnahme und Erarbeitung von kompensatorischen Schluckmustern (Chin Tuck und super-supraglottisches Schlucken). Es zeigte sich bereits bei der Untersuchung 2011, dass beides von Frau Mustermann nicht in ausreichendem Maße umgesetzt werden konnte. Daher habe ich Frau Mustermann den Einsatz von Dickungsmitteln empfohlen. Bei halbfesten Konsistenzen konnte ich im Rahmen der fiberendoskopischen Schluckuntersuchung kein Aspirationsrisiko erkennen.

Als Produkt für den individuellen Einsatz bei Frau Mustermann habe ich „Thickenup Clear“ genannt, da es bei diesem Dickungsmittel zu keiner Trübung des Getränkes kommt und ich den Aspekt der Akzeptanz der angewandten Hilfen bei Frau Mustermann für sehr wichtig hielt.
Dickungsmittel aus dem Lebensmittel-Einzelhandel sind in ihrer Zusammensetzung nicht so rein wie die von mir und dem Hausarzt empfohlenen Produkte und können Allergene enthalten. Bei Dickungsmitteln aus dem Lebensmittel-Einzelhandel fehlen verlässliche Angaben zur Zubereitung standardisierter Viskositäten.

Die bei Frau Mustermann bestehende Aspirationsgefahr ist die Folge der Dysphagie und lässt sich durch den Einsatz des Dickungsmittels reduzieren. Damit ist im Falle von Frau Mustermann das Dickungsmittel ein Hilfsmittel nach §33 Abs. 1 SGB V.

Eine grundsätzliche Ablehnung der Kostenübernahme durch die Krankenkasse ist nicht hinnehmbar. Der Hinweis auf ein Urteil des BSG vom 5.7.2005 (Az.: B1KR 12/03 R) stellt einen Systemfehler dar. Eine individuelle Prüfung und Einzelfallentscheidung muss zu einem anderen Ergebnis führen.

Ich bin über den weiteren Verlauf sehr gespannt. Habt ihr ähnliche Probleme in eurer täglichen Praxis? Lasst uns in den Kommentaren gern darüber diskutieren.

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